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Vor der Kricket-Weltmeisterschaft in Indien: Ein Wettbewerb, der die Gesellschaft widerspiegelt


Kricket in Indien

Szene aus dem dem Kricketspiel der Rajasthan Royals gegen die Chennai Super Kings in Jaipur, Indien

In Indien ist Kricket Volkssport (hier eine Szene aus Spiel der Rajasthan Royals gegen die Chennai Super Kings). © dpa / picture alliance / Vishal Bhatnagar

Von Ronny Blaschke · 01.10.2023

In Indien ist Kricket wohl das einzige Thema, auf das sich Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen einigen können. Das Spiel ist aber auch politisch: Spannungen mit Pakistan übertragen sich aufs Spielfeld. Premier Modi will die WM nun für sich nutzen.

Mit seinen vier Quadratkilometern gilt der Maidan in Kalkutta als der größte öffentliche Park Indiens. Es dauert fast zwei Stunden, um die Fläche einmal abzulaufen.

Im Westen wird der Park durch einen Mündungsarm des Ganges begrenzt. Im Osten liegt das Geschäftsviertel von Kalkutta. Der drittgrößte Ballungsraum Indiens dürfte bald 20 Millionen Einwohner zählen. Aber hier auf dem Maidan ist von Hektik wenig zu spüren.

Große Begeisterung für Kricket in Indien

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Bereits am Vormittag liegt tropische Hitze über dem Maidan. Durch die dichte Dunstglocke kann man die Sonne nur noch erahnen. Ein Hirte treibt seine Schafsherde von einer Wiese zur nächsten. Jugendliche stecken mit ihren Rucksäcken Spielfelder ab. Für Hockey, für Fußball und vor allem: für Kricket.

„In Indien ist die Begeisterung für Kricket größer als alles andere. Die Leute sind verrückt danach. Wir verehren Kricket“, sagt Ambar Roy, früher Profispieler und heute Trainer einer Jugendmannschaft. Er sitzt mit durchgedrücktem Rücken auf einem Gartenstuhl und zieht seine Mütze ins Gesicht.

Amber Roy (mit der rosa Mütze) und seine Jugendmannschaft

Amber Roy (mit der rosa Mütze) und seine Jugendmannschaft © Ronny Blaschke

Vor ihm schwärmen seine Spieler auf dem Feld aus und bekleiden ihre Positionen. Die meisten sind auf dem Land aufgewachsen und wurden von Talentscouts entdeckt.

Eine Tradition seit dem 18. Jahrhundert

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In Kalkutta trainieren die Spieler nun für den Durchbruch und hoffen auf eine lukrative Karriere. Ein schwieriges Unterfangen, sagt Trainer Ambar Roy, aber nicht unmöglich:

Wir wachsen seit der Kindheit mit Kricket auf, es wird überall im Fernsehen gezeigt. Rund um dieses Spiel ist eine riesige Industrie entstanden. Medien, Filme, Werbung. Man kann als Profispieler im Kricket viel Geld verdienen. Wer sind denn die Berühmtheiten in unserem Land? Filmstars, Kricketspieler und Politiker.

Auf dem Maidan sind nur noch wenige Flächen frei. Kricketspiele, soweit das Auge reicht. Die Spieler klopfen sich den Staub von ihren Trikots und motivieren sich mit lautem Klatschen. Mit großer Vorfreude blicken sie auf die Kricket-Weltmeisterschaft, die in diesem Oktober und November in Indien stattfinden wird, auch in Kalkutta.

Kricket als Element der Bildung

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Für Ambar Roy ist Kricket aber nicht nur Spaß, sondern auch Element der Bildung. Er erläutert seinen Spielern gern, wie die britische Kolonialmacht das Spiel im frühen 18. Jahrhundert nach Indien brachte: „Am Anfang spielten ausschließlich britische Soldaten und Kolonialisten Kricket. Sie erlaubten es den ärmeren Indern nicht, mitzumachen. Die Inder schauten zu, ihre Leidenschaft wuchs. So entwickelten sie ihre eigene Version von Kricket.“

Von den Spielfeldern der Freizeitteams sind es 30 Gehminuten bis zur südlichen Spitze des Maidans. Hinter einer metergroßen Hecke erhebt sich der gotische Turm der St. Paul’s Kathedrale. Daneben öffnet sich ein Garten mit Palmen, Statuen, künstlich angelegten Seen.

Im Zentrum: das „Victoria Memorial“, ein weißes Gebäude mit Marmorböden, Freitreppen und Kuppel. Mächtige Kolonialbauten wie diese erinnern an die Vergangenheit von Kalkutta. Als langjährige Hauptstadt von Britisch-Indien. Inzwischen heißt die Stadt offiziell Kolkata.

Ein Schlagballspiel fürs Immunsystem

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An der Schwelle zum 20. Jahrhundert, zur Zeit der größten Ausdehnung, erstreckt sich das britische Empire auf ein Viertel der weltweiten Landfläche. Unter den 300 Besitzungen des Vereinigten Königreiches gilt der indische Subkontinent als „Juwel“.

Schon seit dem 17. Jahrhundert verschiffen englische Kaufleute wertvolle Stoffe und Gewürze von hier nach Europa. Ihr wichtigster Handelsposten ist Kalkutta im Nordosten des Subkontinents, in der tropischen Region Bengalen.

„Bengalen war eine Brutstätte für Malaria und Cholera. Die englischen Händler und Missionare, die ohne ihre Familien hergekommen waren, wurden häufig krank“, erzählt die Historikerin Basudhita Basu, die sich mit der gesellschaftlichen Rolle des Sports in der britischen Kolonialzeit befasst.

Sie ergänzt: „Die medizinische Versorgung war nicht sehr fortschrittlich. Die Briten mochten Indien nicht sonderlich, es war heiß. Daher begannen viele von ihnen mit Sport, zum Beispiel mit Kricket. Als Zeitvertreib, und vor allem, um ihr Immunsystem zu stärken.“

Ein Instrument der Erziehung

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Ob Zugverkehr oder Bildung, Medizin oder Unterhaltung: Die britischen Kolonialherren legen großen Wert auf „Rassentrennung“. Auch in den frühen Sportklubs von Kalkutta wollen englische Soldaten, Missionare und Lehrer unter sich bleiben, berichtet Basudhita Basu: „Die Bengalen wurden von den Briten als verweichlicht angesehen. In ihren Augen waren die Einheimischen zu schwach für die Armee oder für die Sportvereine. Die Bengalen waren Untertanen, nicht mehr.“

Mitte des 19. Jahrhunderts leben 250 Millionen Menschen in Indien – nur 90.000 kommen aus Großbritannien. Die Kolonialherren, die sich vor Aufständen fürchten, sind auf Unterstützung der Einheimischen angewiesen.

Sie heuern Zehntausende indische Söldner an. Und sie kooperieren mit den Maharadschas. Diese lokalen Fürsten dürfen formell eigenständig bleiben, doch sie müssen Abgaben leisten.

„Die Kollaborateure durften zunehmend auch an Sportwettbewerben teilnehmen“, erläutert Basudhita Basu. „Im Kricket oder im Fußball sollten sie sich Disziplin und Teamfähigkeit aneignen. Die Briten nutzten den Sport, um sich in der indischen Elite gehorsame Diener heranzuziehen.“

Auf die Katastrophe folgt die Kricketdiplomatie

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Anfangs des 20. Jahrhunderts wächst die indische Unabhängigkeitsbewegung. Millionen Inder wollen sich nicht mehr unterdrücken lassen. Sie erobern sich eigene Räume, gründen Kricket- und Fußballmannschaften. Die Briten können diese Sportbegeisterung der Einheimischen nicht mehr stoppen, erzählt die Historikerin Basudhita Basu: 

Die Briten zeigten nun paternalistisches Wohlwollen. Das Konzept von White Man’s Burden setzte sich durch. Die angebliche Bürde des weißen Mannes, die unterentwickelten Inder in die Moderne zu führen. Die Briten herrschten noch immer, aber sie taten so, als würden sie Indien etwas Gutes tun.

Historikerin Basudhita Basu

Ab den 1920er-Jahren bilden sich Kricketteams entlang religiöser Linien. Bei Turnieren spielen Hindus oft gegen Muslime. Bald kommt es auf den Plätzen zu Hassreden und Gewalt.

1947 dann die Unabhängigkeit, der Subkontinent wird in zwei Staaten geteilt: In das mehrheitlich hinduistische Indien und in das vorwiegend muslimische Pakistan. Vertreibung, Flucht und Verfolgung kosten mehr als eine Million Menschen das Leben.

Zwischen Indien und Pakistan entsteht ein Konflikt mit globalen Folgen. Doch Kricket erweist sich als ein Mittel der Diplomatie: 1952 spielt die pakistanische Auswahl erstmals in Indien. Zwei Jahre später ist das indische Team in Pakistan zu Gast.

Während des Krieges in der Diaspora

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1983 findet die Kricket-Weltmeisterschaft in England statt. Zum ersten Mal gewinnt Indien das Turnier. Der Jubel ist groß. Für viele Inder ist der Prozess der De-Kolonialisierung damit abgeschlossen, berichtet der Politikwissenschaftler Avipsu Halder, der die Verbindungen von Kricket und Politik erforscht:

„Der Sieg gegen die einstigen Kolonialherren in ihrem eigenen Land war eine historische Errungenschaft. Die Popularität von Kricket in Indien wuchs. Die politischen Eliten interessierten sich zunehmend für den Sport. Kricket wurde zu einer Bühne für den Konflikt mit Pakistan.“

1991, vor einer Partie zwischen Indien und Pakistan, graben indische Nationalisten das Spielfeld in Mumbai um, das Spiel muss verlegt werden. Mitunter werden Testspiele zwischen den Rivalen von den Regierungen untersagt, zum Beispiel während der indisch-pakistanischen Kriege 1965, 1971 und 1999.

Avipsu Halder sagt: „Indien gegen Pakistan: Das Potenzial an finanziellen Einnahmen durch Sponsoren und TV-Vermarktung ist so groß, dass man nicht lange auf diese Spiele verzichten möchte. Daher fanden sie in politisch schwierigen Zeiten oft auf neutralem Boden statt, zum Beispiel in Toronto oder Dubai, wo viele indische und pakistanische Einwanderer leben. So konnte man den Wettbewerb am Leben halten.“

Terror kappt viele Verbindungen

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In der Regel folgen nach Eskalationen zwischen Indien und Pakistan wieder Phasen der Annäherung. Die „Kricketdiplomatie“. Anfang des neuen Jahrtausends beteiligen sich indische und pakistanische Spieler an einer Kampagne gegen Kinderlähmung.

2004 sammeln sie Spenden für die Opfer des Tsunami in Sri Lanka. Im selben Jahr reist das indische Nationalteam zum ersten Mal nach 15 Jahren wieder nach Pakistan.

Kricket auf dem Maidan in Kalkutta

Kricket auf dem Maidan in Kalkutta© Ronny Blaschke

Der Politikwissenschaftler Avipsu Halder führt dazu aus: 

Diese Spiele sind heute als Freundschaftsserie bekannt. Damals überreichte der indische Premierminister Vajpayee dem Kapitän der indischen Mannschaft einen Kricketschläger mit der Aufschrift: ,Nicht nur das Spiel, sondern auch die Herzen gewinnen‘. Es gab zu jener Zeit Sicherheitsbedenken und die Sorge vor Terroranschlägen in Pakistan, zum Beispiel in der Stadt Karatschi. Trotzdem reiste das indische Team für ein Spiel nach Karatschi. Eine Botschaft des guten Willens.

Politikwissenschaftler Avipsu Halder

Doch die Stimmung schlägt um. 2008: eine Anschlagsserie pakistanischer Islamisten in Mumbai mit mehr als 160 Toten. 2009: ein Angriff auf das Kricketteam von Sri Lanka im pakistanischen Lahore. Die indische Regierung untersagt Kricketspiele des Nationalteams in Pakistan. „Lange haben pakistanische Kricketspieler auch für Vereine in der indischen Liga gespielt“, sagt Avipsu Halder.

Doch damit war nach den Terroranschlägen 2008 Schluss: "Nur ein pakistanischer Spieler durfte noch einreisen, allerdings mit seinem britischen Pass. Alle anderen mussten draußen bleiben, bis heute.“

Politische Bühne im Stadion des Premiers

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Kricket in Indien ist politisch durch und durch. Im März dieses Jahres empfängt die indische Mannschaft das Team aus Australien in Ahmedabad, im Westen des Landes. Vor der Partie fährt ein Wagen mit einem Podest um das Spielfeld herum.

Darauf stehen und winken Australiens Premierminister Anthony Albanese und Indiens Premier Narendra Modi. Auf dem Wagen steht eine Botschaft: „Freundschaft durch Kricket“.

Das Stadion von Ahmedabad ist mit 132.000 Plätzen das größte Kricketstadion der Welt. Es trägt seit 2021 den Namen von Narendra Modi und liegt in seinem Heimatbundesstaat Gujarat.

Für das Spiel gegen Australien gingen Zehntausende Tickets an Mitglieder von Modis Partei, an die hindu-nationalistische BJP. In Indien gehören von 1,4 Milliarden Einwohnern 14 Prozent dem Islam an. Im politischen Klima unter Modi, der seit 2014 regiert, haben Anfeindungen gegen Muslime zugenommen.

Es dürfte kein Zufall sein, dass nun bei der anstehenden Kricket-Weltmeisterschaft das Spiel zwischen Indien und Pakistan in Ahmedabad stattfinden soll, in der politischen Heimat Modis.

Wieder werden Medien das Duell als politisches Drama betrachten, sagt Avipsu Halder: „Es gab auch zahlreiche muslimische Spieler in der indischen Mannschaft, zum Beispiel Zaheer Khan oder Mohammed Kaif. Sie haben großen Anteil daran gehabt, dass das indische Team auch gegen Pakistan erfolgreich war.“

Wirtschaft und Kricket sind eng verbunden

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In Indien ist Kricket eine Bühne für Politik, Kultur, Wirtschaft. Und es gibt nur wenige Orte, an denen das so deutlich wird wie in Kalkutta. An der nördlichen Spitze des Maidans, des großen öffentlichen Parks, ragen Flutlichtmasten in den Himmel.

Hier liegt Eden Gardens, das drittgrößte Kricketstadion der Welt. Die Fassade ist mit Malereien verziert. Darauf zu sehen sind Fans, die ehrfürchtig zu ihren Sporthelden aufschauen.

Die Malereien auf der Fassade von Eden Gardens

Die Malereien auf der Fassade von Eden Gardens© Ronny Blaschke

Auf der Fläche von Eden Gardens wurde in den 1860er-Jahren erstmals Kricket gespielt. Seither wurde das Gelände erweitert und umgebaut, vergrößert und renoviert. Und mit jedem Jahrzehnt wuchs die Bedeutung des Stadions.

„Als ich zur Schule ging, vor 40 Jahren, habe ich meine ersten Spiele in Eden Gardens verfolgt. Das Stadion war ausverkauft, mit 80.000 Menschen. Die Leute kamen morgens um 9.30 Uhr und gingen erst am späten Nachmittag wieder nach Hause. Wir haben Frühstück, Mittag und Snacks im Stadion gegessen“, erzählt Snehasish Ganguly, Präsident des Kricketverbandes von Westbengalen, also jenes Bundesstaates, in dem Kalkutta die Hauptstadt ist.

Ganguly gehört zu den einflussreichsten Sportfunktionären Indiens und sagt: „Für uns ist das Liebe und Leidenschaft. Früher sind mein Vater und ich abends rund um Eden Gardens spazieren gegangen. Wir haben auf den Grünflächen Kricket gespielt.“

In den Katakomben von Eden Gardens hat Snehasish Ganguly ein großes Büro. An den Wänden hängen Gemälde mit Kricket-Motiven. Ganguly ist ehrenamtlich im Kricketverband aktiv, im Hauptberuf leitet er ein millionenschweres Verpackungsunternehmen.

Funktionäre wie er machen deutlich, wie sehr Kricket in Indien mit der Wirtschaft verbunden ist: „Uns steht eine gute Summe Geld zur Verfügung, eine sehr gute Summe. Deshalb kommen auch professionelle Spieler aus der ganzen Welt zu uns.“

Für die besten Spieler finden Auktionen statt

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Snehasish Ganguly spricht von der Indian Premier League IPL, der wichtigsten Kricketliga der Welt. Allein der Verkauf der Medienrechte sichert der IPL in den kommenden fünf Jahren 6,4 Milliarden Dollar. Eine Unternehmensgruppe bezahlte knapp eine Milliarde Dollar, um im nordindischen Lucknow einen weiteren Klub gründen zu dürfen. Damit gilt die Indian Premier League als zweitlukrativste Sportliga der Welt, nach der American-Football-Liga NFL.

„Der Vorteil des Sports ist die große Reichweite. Damit können Unternehmen ihre Produkte bewerben“, sagt Snehasish Ganguly. „Begehrt sind die Vermarktungsrechte im Stadion. Es gibt Werbemöglichkeiten auf den oberen Rängen und unten in der Nähe des Spielfeldes. Wichtig ist für die Unternehmen, dass ihre Marken im Fernsehen auftauchen.“

Die Indian Premier League symbolisiert den Aufstieg Indiens. 2010 war sie die erste Sportliga, die auf Youtube übertragen wurde. Zu ihren wichtigsten Sponsoren gehören ein Stahlunternehmen, eine Finanz-App, ein Anbieter für Online-Fortbildungen. Und aus dem Ausland drängen Staatskonzerne aus Katar und Saudi-Arabien auf den indischen Kricketmarkt.

Das Besondere an der IPL: Eine Saison dauert nur zwei Monate und besteht aus 74 Spielen, erzählt Funktionär Snehasish Ganguly:

Bei uns gibt es Auktionen. Das heißt, dass die Vereine ihre Spieler ersteigern können. Es fließt sehr viel Geld durchs System. Doch letztlich sind die besten Spieler aus aller Welt in Indien aktiv, sie kommen zum Beispiel aus England oder Australien. Die IPL sichert vielen Menschen direkt oder indirekt den Lebensunterhalt.

Funktionär Snehasish Ganguly

Das Kastenwesen lebt fort

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DER SPIEGEL

Früher waren es Romane, Bollywood-Filme und Gedichte, in denen Kricket thematisiert wurde. Heute sind es in den Stadien spektakuläre Shows mit Licht-Drohnen und Tanzchoreografien. Funktionsträger wie Snehasish Ganguly vermeiden Themen, die das Milliardengeschäft Kricket und damit auch die indischen Eliten in ein schlechtes Licht rücken könnten.

Zum Beispiel die Einschränkung der indischen Medien, die immer weiter zunimmt. Unter der Regierung von Narendra Modi ist Indien in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 161 gefallen – von 180 bewerteten Staaten.

„Die Regierung hat den Druck auf Institutionen erhöht, die unabhängig sein sollten. Anhänger von Modi und seiner Partei wurden in Gericht und Medien berufen“, berichet die Aktivistin Tariqa Tandon, die Sport als Plattform für soziale Themen nutzt. 

In sozialen Medien müssen wir genau darauf achten, welche Inhalte wir veröffentlichen. Die Behörden beobachten auch, ob NGOs Förderung aus dem Ausland bekommen. Vielleicht bewegen wir uns mit dem Thema Sport etwas unter dem Radar. Und unser Projekt ist relativ klein.

Aktivistin Tariqa Tandon

Tariqa Tandon ist in Delhi aufgewachsen und hat in Kanada Politikwissenschaft studiert. Seit der Pandemie ist sie zurück in ihrer Heimatstadt und arbeitet für „Pro Sport Development“, eine Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich mit Sport für benachteiligte Jugendliche einsetzt.

Als eine von wenigen Aktivistinnen befasst sie sich mit einem besonders sensiblen Thema der indischen Gesellschaft: dem Kastenwesen. Dabei handelt es sich um eine hierarchische Gliederung der hinduistischen Gesellschaft, die ihren Ursprung im zweiten Jahrtausend vor Christus haben soll.

Der indische Staat hat diese Rangordnung offiziell abgeschafft. Und auch die Sportverbände betonen Gleichberechtigung.

Tariqa Tandon wirft aber ein: „Alle reden ständig darüber, dass der Sport ein verbindendes Element habe. Angeblich spielen Hautfarbe, Geschlecht und Kaste keine Rolle. Aber das ist nicht wahr.“

Ausgrenzung in Teamsportarten

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CNN-News18

Am unteren Ende des Kastenwesens stehen die so genannten „Unberührbaren“, auch bekannt als Dalit, die „Niedergetretenen“. Die Dalit mussten sich Jahrhunderte lang mit „unreinen“ Berufen begnügen, als Wäscher und Schlachter, als Müllsammler und Reiniger von Latrinen.

Tariqa Tandon recherchiert, wie sich das Kastenwesen auf den Sport auswirkt: „Die ,Unberührbarkeit‘ wird an vielen Orten noch immer praktiziert. Das kann man vor allem im Kontaktsport und in Teamsportarten beobachten. Dort werden Dalit häufig ausgegrenzt.“

Wenige Dalit-Sportler steigen zu Helden auf. Einer der bekanntesten von ihnen, der Kricketspieler Palwankar Baloo, schafft das schon im späten 19. Jahrhundert. Baloo stammt aus einer Familie von Lederarbeitern. In Bombay, heute Mumbai, beobachtet er als Jugendlicher die Spiele von Soldaten. Er hilft beim Aufbau des Spielfeldes und trainiert mit ausrangierter Ausrüstung.

Palwankar Baloo wird zu einem der besten Spieler. Doch nach den Partien muss er Tee und Abendessen allein zu sich nehmen, erzählt Tariqa Tandon:

Bis heute greifen Medien das Kastenwesen kaum als Thema auf. Und auch im Sport sprechen Athleten ungern darüber. In den 1990er-Jahren schaffte es zum Beispiel Vinod Kambli ins indische Kricket-Nationalteam. Jeder wusste, dass er Dalit war. Aber er selbst wollte ausdrücklich nicht darüber sprechen.

Kricket-Spieler Palwankar Baloo

Seit mehr als 90 Jahren existiert die indische Kricketauswahl. Unter den rund 300 Spielern, die seither zum Einsatz kamen, waren nur vier Dalit. Das liege auch an der Segregation der Gesellschaft, sagt Tariqa Tandon. In riesigen Metropolen wie Delhi, Mumbai oder Kalkutta kommen wohlhabende und benachteiligte Familien fast nie in Kontakt.

Sie leben in unterschiedlichen Vierteln, ihre Kinder besuchen unterschiedliche Schulen, Kinos oder Sportstätten: „Für manche Parks werden Sicherheitskräfte engagiert, um arme Menschen fernzuhalten. Auch sonst kostet der Zugang zum Leistungssport Geld. Die Mitgliedsgebühren, die Fahrtkosten zum Trainingszentrum und die Ausrüstung.“

Frauen müssen auf abgelegener Fläche spielen

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In indischen Filmen, Serien und Medien wird Kricket als der Sport beschrieben, auf den sich in der Gesellschaft alle einigen können. Eine Volksbewegung. Aber wenn man geduldig über den Maidan in Kalkutta läuft und die Spielfelder beobachtet, dann merkt man schnell: eine Hälfe der Bevölkerung bleibt außen vor: Mädchen und Frauen.

„Die allgemeine Wahrnehmung ist, dass Frauen nicht an vermeintlich maskulinen Sportarten teilnehmen sollten. Stattdessen sollten sie sich auf angeblich feminine Sportarten konzentrieren: Badminton, Tischtennis oder Schwimmen“, erzählt die Pädagogin Suparna Bhattacharya, die in Kalkutta angehende Lehrerinnen ausbildet.

Seit ihrer Jugend hat sie unterschiedliche Sportarten ausprobiert, auch Kricket: „Wenn ich an meiner Uni herumfragen würde, wo ausschließlich junge Frauen studieren: Wer kennt eine indische Kricket-Nationalspielerin beim Namen? Nur wenige hätten eine Antwort parat. Sie interessieren sich nicht für Frauen-Kricket.“

Nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 vergehen 30 Jahre, bis sich auch im Kricket die ersten Frauenteams formieren. Auf dem Maidan in Kalkutta dürfen sie lange nur auf einer abgelegenen Grünfläche spielen.

Anfang der 2000er-Jahre ist Suparna Bhattacharya eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die das Thema erforscht:

Wir wurden damals belächelt und nicht wirklich ernstgenommen. Ich habe einen bekannten Verein in Kalkutta besucht und wollte dort im Archiv recherchieren. Die Leute stellten mir viele Fragen, sie gaben sich verschlossen und lehnten meine Anfrage ab. Ich bin kurz danach noch einmal mit einem männlichen Freund dorthin gegangen. Ihm wurde der Zutritt zum Archiv gestattet.

Wissenschaftlerin Suparna Bhattacharya

Kricket lässt anderen Sportarten keinen Raum

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Westliche Medien blicken mit Ehrfurcht nach Indien. Geht man nach dem Bruttoinlandsprodukt in absoluten Zahlen, so liegt Indien unter den größten Volkswirtschaften auf Rang fünf. Aber rund ein Drittel der indischen Bevölkerung lebt in Armut – mit Folgen für den Sport, sagt Suparna Bhattacharya:

„Es gibt so viele Talente hier, aber sie werden nicht gefördert. Ich war neulich in einer Schule in einem Vorort von Kalkutta. Viele Mädchen sind dort an Kricket interessiert. Aber es fehlen die Ausrüstung und die Sportanlagen. Also spielen sie auf der Straße. Wir brauchen in Indien eine groß angelegte Sportstrategie.“

Indien, das bevölkerungsreichste Land der Welt, liegt im historischen Medaillenspiegel der Olympischen Sommerspiele nur auf Rang 49. Das indische Fußballnationalteam hat noch nie an einer Weltmeisterschaft teilgenommen. In Indien interessieren sich Politik, Medien und Wirtschaft für Kricket. Alles andere scheint nicht zu existieren.

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Author: Kenneth Poole

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